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 Der einsame Cajun - Teil 2

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heinrich k

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BeitragThema: Der einsame Cajun - Teil 2   Der einsame Cajun  - Teil 2 Icon_minitimeSa Okt 18, 2008 9:09 pm

„Spielen Sie Billard?“
Obwohl Stella von der Frage überrascht war, nickte sie.
„Nineball oder Eightball?“
„9er. Das spielen wir hier immer“, erklärte Paul, goss sich einen neuen Schnaps ein und war dann schon auf dem Weg zu dem Tisch.
Er baute die Kugeln zu einem Rombus auf und gab Stella einen Queue und den weißen Ball.
„Darf ich beginnen?“
„Ladies first“, konstatierte Paul und nahm sich einen eigenen Queue. Er kreidete die lederne Pomeranze ein, während Stella die weiße Kugel positionierte und den Anstoß ausführte.
Die Nummern auf dem Tisch verteilten sich mit lauten Klick-Klack und die Neun rollte von einer Bande zur anderen, blieb dann in der Mitte des grünen Filzes liegen. Keine Kugel war versenkt worden.
Der Wirt kreidete weiter, während er den Tisch umrundete. Schließlich setzte er seinen Queue an und visierte über die weiße Kugel hinweg die Eins an.
„Raoul ist kein einfacher Mensch.“
Klick-Klack.
Die Eins rollte in das hintere linke Loch und Paul war erneut dran.
„Aber er hat ein einfaches Gemüt. So war es aber nicht immer, denn das Leben hat ihn so gemacht.“
„Sie meinen, dass er es nicht einfach hatte?“
„Die Zwei!“
Die weiße Kugel traf genau und stieß die angesagte Kugel in ein Mittelloch. Der Wirt richtete sich auf und nahm einen kleinen Schluck seines Whiskeys.
„Er kam 1998 hierher. Ohne Gepäck, ohne Geld. Nur mit einer alten Flinte, einer kleinen Campingaxt und dem was er am Körper trug.“
„Woher kam er?“
Paul spielte die Drei an, doch sie schlug an die Bande und blieb kurz vor dem Loch liegen. Nun war Stella wieder dran.
Ein paar Züge tat Paul aus der Pfeife, fachte so die Glut wieder an, dann sah er der Journalistin zu.
„Wissen Sie, beim Spiel kann ich mich immer am besten unterhalten. Es ist lockerer.“
Stella sah sich um, doch Ingrid war verschwunden.
„Sie meinen, dass man so dem Gegenüber nicht immer in die Augen sehen muss?“
Der Wirt schmauchte einen Zug und sah dann zu, wie Stella die Dreierkugel in einem Eckloch versenkte.
„Vielleicht? Nein, eher weil man nebenher an die Kugeln, das Spiel denkt. Somit bauen sich keine Fronten auf und kleine Spitzen werden durch den nächsten Stoß wieder geglättet. Raoul ging damals in die Sümpfe. Er hatte sich ein Boot geliehen und eine Skizze von einem Einheimischen zeichnen lassen. Die Zeichnung führte ihn zu einer abgelegenen, aber noch bewohnbaren Insel hier im Sumpf. Danach sahen wir zwei Monate nicht mehr.“
Auch die Vier wurde von Stella eingelocht und als sie die Fünferkugel anpeilte, sah sie kurz zu ihrem Gastgeber auf.
„Und dann?“
„Dann stand er mit einem Dutzend Felle hier im Laden und wollte dafür Waren kaufen.“
„Felle?“
„Ja! Seine Beute aus den zwei Monaten. Ich wollte ihm sagen, dass wir keine Felle annehmen würden, sondern nur Dollar, doch er stand aufrecht und stolz im Laden, als hätte er gerade die Welt erobert.“ Paul sah in sein Glas und beobachtete das goldene Glitzern des Getränkes. „Ich gab ihm dann Proviant und Ausrüstung für 50 Dollar. Die Felle habe ich auf den Müll geworfen.“
Stella verpatzte ihren Stoß.
„Sie haben ihm Kredit gegeben?“
„Ja!“
„Und wann kam er wieder mit neuer Beute?“
„Gar nicht!“
„Nicht?“
Paul lochte die Fünf ein und gleich darauf den Ball mit der Sechs. Die Neun wurde berührt und lief quer über den Tisch. Mittig vor der Bande blieb die Kugel einsam liegen.
„Ein Cousin von mir, George, er lebt auf einem der Anwesen im Sumpf, ist zu ihm hinaus gefahren und hat ihm erklärt, dass es kein Geld für Felle gibt. Stattdessen hat er ihm einen Job in seiner Fischfarm angeboten. Raoul sollte weiter draußen Reusen auslegen und kontrollieren. Seitdem verdient er sich so sein spärliches Leben.“
„Woher kam er?“, fragte Stella erneut und legte ihren Queue beiseite.
Sie ging zu Theke und trank von ihrem Bier.
„Soweit ich es weiß, kam er aus New York!“
„Sie kennen ihn also nicht so genau? Vorhin hatte ich den Eindruck, als würden Sie ihn schützen wollen. So etwas macht man doch nur, wenn man jemanden kennt und mag, oder?“
Paul lehnte sich förmlich auf seinen Queue und schob sich seine Mütze in den Nacken.
„Wissen Sie, Stella, man muss einen Menschen nicht genau kennen, oder gar wissen woher er kommt, um ihn zu mögen oder einzuschätzen. Manchen Menschen kann man ansehen, was in ihnen steckt, oder was sie sich wünschen. Raoul ist solch ein Mensch.“ Er zeigte auf die alleinliegende Neun. „Wie diese Kugel dort, so kann man Raoul sehen. Er ist alleine und auf sich gestellt. Er will es auch so, hat sich diesen Weg gewählt. Deshalb kam er hierher. Und wenn wir ihn weiter mit diesem Neunerball vergleichen, dann finden wir noch eine andere Parallele. Die Kugel kann sich nicht selbst schützen oder sich aussuchen wohin sie rollt. Sie wird von irgendeiner anderen Kugel getroffen und in eine Richtung gestoßen, die sie nicht gewählt hat und auch nicht wählen konnte. Zum Beginn des Spiels war dies noch anders. Da lag sie inmitten aller anderen Bälle und war somit augenscheinlich geschützt. Dann kam ein Schlag von außen und alles änderte sich. Und nun liegt sie dort und, wenn sie denken könnte, würde sie hoffen nicht erneut in eine ihr unbekannte Richtung getrieben zu werden. Am liebsten würde sie dort bleiben.“
Stella strich sich über die Stirn.
„Und Raoul ist wie dieser Spielball?“
Paul kam zur Theke zurück und servierte der Journalistin ein neues Bier. Sich selbst goss er einen Kaffee ein, dann setzte er sich neben Stella auf einen Hocker.
„Vielleicht dramatisiere ich das Ganze auch. Doch vielleicht habe ich auch Recht. Was meinen Sie?“
Die junge Frau zuckte mit den Schultern und ließ die Bierflasche in ihren Händen drehen.
„Ich war einmal draußen bei ihm“, fuhr Paul fort. „Er hatte sich drei Wochen lang weder bei mir, noch bei George gemeldet, also nahm ich eine Flasche Branntwein, ein Boot und suchte seine Hütte auf. Ich fand ihn an seinem Steg sitzend. Nicht auf dem Steg, sondern am Steg. Auf der Insel, einen Schritt vor der ersten Holzbohle. Er saß einfach da und dachte nach. Als ich ankam begrüßte er mich, doch seine Gedanken waren woanders. Wir machten ein kleines Feuer, er bereitete Grillfisch und ich goss von dem Brandy ein, dann unterhielten wir uns. Ich erklärte ihm, dass George und ich uns Sorgen gemacht hatten und ich aus diesem Grunde heraus gekommen sei. Wissen Sie, wie er darauf reagierte?“
„Sagen Sie es mir.“
„Er weinte. Er heulte oder schluchzte nicht. Es rannen einfach Tränen an seinen hageren Wangen herunter. Und dann berichtete er mir von seinem Leben. Er erzählte mir von seinem Collegeabschluss. Von seinem ersten Job bei der Bank und von der Frau, die er dort kennen lernte, liebte und zwei Jahre später im Rahmen einer wunderschönen Feier heiratete. Er schwärmte von der Geburt seiner zwei Kinder und referierte kurz von seiner schnellen Karriere als Anlageberater. Alles schien damals perfekt; die Welt wie für ihn gemacht. Seine Frau bewegte sich in den oberen Kreisen der Stadt. Er wurde weiter befördert und konnte seiner Familie alles bieten, bis er nur einen kleinen Fehler machte. Ein Kunde, ein großer und einflussreicher Mann, hatte ihn gebeten sich um seine Finanzen zu kümmern. Raoul baute eine Taktik, einen Finanzplan auf und bot ihn dem Kunden an. Aktien, Anleihen und was es sonst noch gibt. Ich kenne mich da nicht aus, jedenfalls nahm der Kunde diese Planung an und gab grünes Licht. Und alles lief prima. Ein Jahr lang, denn dann zeigte sich, dass Raoul sich verkalkuliert hatte. Das angelegte Geld des Kunden verschwand ins Nirwana und Raoul, davon mehr als nur angeschlagen, versuchte alles, um den Plan zu retten. Er arbeitete über Wochen tagein und tagaus daran. Zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden täglich. Dabei verlor er selber mehr, als sein Kunde je verlieren könnte. Er verlor den Bezug zum Leben, zu Kollegen und Freunden, zu seinen zwei Kindern und zu seiner Frau. Sein einziger Gedanke galt der Rettung des Auftrages, um seine Familie und ihr gutes Leben zu retten. Der Verlust dieses Kunden hätte der Bank einen herben Schlag verpasst und dem Manager Raoul Entlassung und Ruin gebracht. Also machte Raoul einen zweiten Fehler und steckte all seine Energie in diese Sache.“ Paul sah Stella an, doch sie starrte nur auf die sich drehende Flasche zwischen ihren Handflächen. „Und irgendwann brach sein Welt nicht nur beruflich über ihn herein. Sein zweiter Fehler trug Früchte. Seine Frau verließ ihn und nahm die Kinder mit. Freunde mieden ihn. Kollegen ließen ihn außen vor. Kunden zogen ihre Aufträge zurück. Nur ein Fehler beförderte sein Leben in ein Chaos. Uns so, wie wir eine Billardkugel bewegen, damit diese eine zweite trifft und eine dritte, so gab es für ihn eine Kette von Fehlern, ausgelöst durch den ersten Stoß. Er resignierte, er trank. Seine Bosse feuerten ihn und Gläubiger ließen sein Hab und Gut pfänden. Seine Frau, die Liebe seines Lebens, verklagte ihn auf Unterhalt und verbot ihm den Kontakt zu den Kindern. Es dauerte zwei Monate bis er in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Ein totaler Zusammenbruch. Ein Fehler nur. Er hatte nur einen Fehler begannen, hatte seine Familie verloren und saß drei Jahre in einem Irrenhaus.“
„Und dann tauchte er hier auf?“
„Er wurde angeblich als geheilt entlassen. Dem war aber nicht so. Ich glaube, dass man ihn kränker entlassen hat, als er es vorher war. Als er hier ankam, sah man ihm an, dass er all die Last dieser Welt, all die Schuld dieser Welt auf seinen Schultern trug. Er fühlte sich schuldig und suchte in unseren Wäldern und Sümpfen einen Platz, an welchem er niemanden schaden konnte.“ Paul schüttelte den Kopf. „Den ganzen Abend, während er mir seine Geschichte erzählte, trank er keinen einzigen Schluck von meinem Brandy. Ich trank und ich erkannte, wie wild und gefährlich die Zivilisation draußen war. Draußen, in den Städten, im Business. Hier bei uns können sie auch Fehler machen, doch diese Fehler berauben einen nicht sofort jeder Chance des Lebens. Man wird für den Fehler bestraft und lernt daraus. Doch dort draußen, in der großen Welt, verzeiht man keine Fehler. Dort ist die Wildnis dieser Tage. Nicht hier, in der so genannten Hinterwelt.“
Stella nickte und stellte ihre Flasche beiseite. Ihre Stimme war heiser, als sie sagte: „Ich weiß. Doch auch dort draußen gibt es Menschen, die noch Menschen sind.“ Sie sah auf und blickte Paul aus tränengefüllten Augen an. „Ich brauchte eine lange Zeit, fast dreizehn Jahre, um zu verstehen und ich weiß, dass Sie Recht haben. Raoul heißt eigentlich Jackson Bains und ich bin hier, um meinen Vater zu sehen. Ich will ihm sagen, dass er nicht Schuld ist und dass ich ihn liebe.“
Paul lächelte, stand auf und ging hinter den Tresen. Von einem Bord fischte er ein Schlüsselbund.
„Ich wusste wer sie sind, Stella. Sie haben seine Augen und sein Lächeln. Mein Boot ist voll getankt. Ich fahre Sie zu ihm.“
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Birgit Böckli
1 Sieger des 1. Schreibwettbewerbs
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BeitragThema: Re: Der einsame Cajun - Teil 2   Der einsame Cajun  - Teil 2 Icon_minitimeMi Okt 29, 2008 9:52 pm

Hallo Heinrich,
endlich finde ich mal die zeit, mir deine Kurzgeschichten näher anzusehen. Du warst ja schon fleißig. Wenn ich dazu komme, poste ich hier auch noch mehr Texte, aber meine Sachen stammen in erster Linie aus meiner vor-PC-Periode und müssen erstmal alle eingetippt werden. Embarassed
Die Geschichte hat mir ganz gut gefallen. Ich mag deinen Stil sehr und die Art, wie du mit Worten umgehst. Trotzdem war ich nicht ganz glücklich mit deinem Text. Einmal ist mir die Stelle, an der du von Raouls bisherigem Leben berichtest, viel zu komprimiert. Ich kenne die Gefahr, wenn man versucht, möglichst viel Info in wenigen Sätzen rüberzubringen, aber ich meine, das hättest du irgendwie eleganter und, auch wenn's schwerfällt, noch kürzer lösen sollen. Und dann dieser Satz mit dem Vater, dem sie sagen will, daß sie ihn liebt. Das ist nicht gut. Deine Geschichte baut auf einer Pointe auf, einem leisen Knalleffekt, den der Leser erst ganz am Schluß als Überraschung serviert bekommt. Warum machst du das mit so einer banalen Aussage kaputt? Ich hätte die Frau gar nicht erklären lassen, daß Raoul ihr Vater ist. Vielleicht hätte sie nur andeuten sollen, worüber sie mit dem Mann reden will, und ihr Gesprächspartner hätte dann sagen können, er habe längst bemerkt, daß sie dieselben Augen hat, sowas in der Art. Irgendwie subtiler einfach.
Aber sorry, alles nur meine Meinung.
Viele Grüße Birgit
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