"Verdammt! Doris! In der Papierschublade ist schon wieder kein Papier!"
Polizeihauptmeister Hans Dieter Gunsch ließ seinem Ärger freien Lauf: "Wie bitte soll ich denn so ein Protokoll aufnehmen? Wozu bist du eigentlich da?"
Die Angesprochene blieb, ohne den Kopf zu heben, an Ihrem Schreibtisch sitzen und streckte ruhig zuerst nur den Arm und dann noch langsamer den Zeigefinger aus. Offensichtlich befand sich das Papier für den Drucker in der angezeigten Richtung und offensichtlich, so dachte sich Hubert Fleischer, der eine Aussage machen sollte, sind sie hier derartige Ausbrüche vom Kollegen Gunsch gewöhnt. Dieser ballte die Fäuste und rang noch einen Augenblick um seine Fassung und marschierte dann mit wütendem Gesichtsausdruck zu der Tür, auf die Doris gedeutet hatte. Kurz darauf kam er mit einem Packen Blätter zurück und legte sie in den Drucker. Keiner, der sich hier im Revier befand, machte Anstalten, sich zu diesem Vorgang in irgendeiner Art zu äußern. Nur Hubert versuchte, eine bessere Stimmung zu erzeugen, ohne sich großartig Gedanken zu machen, wie. Er wollte ganz einfach nur helfen.
"Das Logo muss beim Einlegen zu ihnen und nach unten zeigen, Herr Gunsch."
Wie vom Blitz berührt stellte der Angesprochene jede Bewegung ein, aber nur einen Moment, dann brannte sein Blick zwei glühende Löcher in Fleischers Stirn. Verwundet, aber nicht wehrlos, kam es aus dessen schmallippigen Mund geschlichen: "Die Bürotätigkeiten ... ääh ... liegen Ihnen eben nicht so, ... mmh ... machen sie sich aber nicht zu viele ... ääh ... Gedanken. Damit ... ääh ... stehen sie nicht alleine da."
Am Schreibtisch nebenan ließ Kollege Trottner seinen Computer gerade in seiner Abhandlung für eine Fortblidungsprüfung nach Rechtschreib- und Grammatikfehlern suchen. Das Thema: "Die Vernehmung als Werkzeug der Ermittlung".
'Papier ... das Papier fehlt ... oh, mein Gott! Dieses weltbewegende Problem habe ich vollständig ausgelassen!', dachte er sarkastisch und gluckste dabei wie ein undichter Abfluss.
Er krallte die Hände in die Kante des Schreibtisches und presste seinen linken Fuß auf den rechten, um durch Schmerz das mit aller Macht hervorbrechende Lachen zurückzuhalten. Doch es war zu spät, er begann fröhlich zu prusten und zu quieken wie ein Ferkel und schließlich lachte er laut heraus. Das wiederum drang bei den übrigen Kollegen in die Ecke des Hirns, in der das gemeine hinterhältige Lachen seine Heimat hat. Eine gnadenlose Salve von Schadenfreude-Geschossen traf schließlich den unglücklichen Hans Dieter mitten ins Herz und dirigierte seinen Geist direkt zur Wut.
Nun hatte er im Laufe seines Lebens Taktiken gelernt und weiterentwickelt, die den Ausbruch seines aggressiven Wesens verhinderten. Eine begann er jetzt anzuwenden, indem er langsam in Dreierschritten von einhundert rückwärts zählte. 'Hundert – siebenundneunzig – vierundneunzig – einundneunzig – neunundachtzig – verdammt – achtundachtzig – fünfundachtzig ...'
Und es gelang! Langsam spürte er seinen Atem wieder ruhiger gehen, die dunklen Wolken in seinem Geist verzogen sich. Einige tiefe Atemzüge später war er so weit, die Fröhlichkeit seiner Kollegen ansteckend zu finden. Schließlich keckerte er mit ihnen zusammen weiter und auch der unbeteiligte Zeuge Fleischer verlor seine verwunderte Zurückhaltung und prustete munter drauf los.
'Gut gemacht', lobte sich Gunsch in Gedanken selber, 'Du hast es wieder mal geschafft.'
Wenn er da an früher dachte. Alle, die ihn gut kannten, wären damals vor ihm geflohen, denn nicht selten waren zerbrochene Möbel und einige zerschundene, blutige Haut an ihm selbst als Zeugen seines Wutausbruchs zurückgeblieben. Schon als Kind war das so gewesen. Seine Mutter war darüber fast zerbrochen. Auch sie hatte bei diesen Gelegenheiten einiges zu hören und zu spüren bekommen. Sein Vater war selten zu Hause und verniedlichte bei Beschwerden der Mutter das Problem einfach, um sich nicht zu sehr damit beschäftigen zu müssen.
"Kümmere dich besser um Hans Dieter, Regine, dann wird sich das nach und nach geben", pflegte er zu sagen, wenn er einer Stellungnahme nicht mehr ausweichen konnte. Damit war die Angelegenheit für ihn aber dann auch endgültig erledigt. Schließlich musste er ja am nächsten Tag wieder weg, um die Brötchen zu verdienen. Da konnte er sich um solche Kleinigkeiten nicht mehr zu kümmern. Die Diskussion war damit beendet und seine Mutter immer noch alleine mit Hans Dieters Wutproblem. Überall drang die ungezügelte Entfaltung seiner Aggressivität in sein noch junges Leben. In der Schule mieden ihn alle Kameraden, weil man keine Späße auf seine Kosten machen konnte, wie es nun mal so üblich war. Jeder war einmal dran und er konnte es einfach nicht ertragen, ohne seiner Ablehnung mit Wutausbrüchen Luft zu machen. Da er gleichzeitig enorm kräftig war und beim Raufen sehr geschickt vorging, gab es für seine Mitschüler nur die Möglichkeit, ihn zu ignorieren. Das taten sie dann auch ausgiebig. Das wiederum machte ihn sehr einsam und je älter er wurde, desto weniger wollte er einsam sein. Das "Poor-Lonesome-Cowboy-Image", das ihm seine Mutter zum Schutz verpasst hatte, begann mit der Zeit abzubröckeln. Schließlich war er mit vierzehn Jahren der Empfehlung des Hausarztes der Familie und der dringenden Bitte seiner Mutter gefolgt, sich von einem Kindertherapeuten betreuen zu lassen. Dort hatte er gelernt, mit seinen überschwappenden Gefühlen umzugehen, sie zu beherrschen oder sogar ihr Aufkommen zu verhindern. Er konnte gar nicht glauben, wie gut einfache kleine Tricks ihm dabei halfen. Er fand Freunde, die mit ihm herumzogen, er fand Mädchen, die sich für ihn interessierten und vor allem fand er den Frieden mit sich selbst.
Heute wusste er, dass er ohne die Therapie seinen Traumberuf als "Bulle" wohl nicht hätte ergreifen können. Während jetzt seine Kollegen fröhlich weiter lachten und die eine oder andere Spitzfindigkeit oben drauf packten, was sie zu immer neuen Lachstürmen veranlasste, grinste er zufrieden und glücklich in sich hinein. Er hatte sein Lebensziel erreicht. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Mit ruhigem Blick betrachtete er Hubert Fleischer, der aufgeregt zu ihm herüber starrte.
"Nun, Hubert, jetzt zu dir. Was führt dich denn schon wieder zu uns?" Er schaltete ab, denn sein Gegenüber kam in jeder Woche einmal vorbei, um sich über seine Nachbarn zu beschweren.